Jack Ketchum: Evil

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Dass Jack Ketchums 50er-Jahre-Schockergeschichte in ihrer deutschen Fassung den Titel „Evil“ (zu dt. übel, das Böse) trägt, kommt nicht von ungefähr, überraschender ist dagegen die zurückhaltende Kategorisierung „Roman“ (jedenfalls in der Taschenbuchversion), sollte doch die Warnung „Horror“ in roter Leuchtschrift und mit drei Ausrufezeichnen auf dem Cover prangen, dicht gefolgt von dem Hinweis „FSK 18“. Oder 21. Oder vielleicht sollte dieses Buch generell aus dem öffentlichen Verkauf genommen werden. Dem ein oder anderen würde es einen regelrechten Schock ersparen. Da mag der geübte Rezipient von Grusel und Grauen ruhig müde lächeln, schon bald wird er aus seinem zugeschnürten Halse bloß noch krächzen.
Das Werk des von Stephen King persönlich gepushten US-Amerikaners Dallas Mayr (Pseudonym Jack Ketchum nach einem Henker) erschien ursprünglich (2003) als „The girl next door“, völlig unscheinbar, was dem Stil des Buches absolut entspricht. So zeichnet der Schriftsteller zunächst ein reines Vorstadtidyll im Amerika der 50er Jahre – wenn der Leser in einem kurzen Vorkapitel auch gewarnt wird, dass es gilt, dem Schmerz nahe zu kommen. Dem reinen Schmerz.
„Ich war allein unten am Bach und lag mit dem Bauch auf dem großen Stein, den wir ‚den Felsen‘ nannten. Mit einer Blechdose in der Hand war ich auf der Jagd nach Flusskrebsen.“ Es ist der Sommer 1958, David ist gerade im Begriff, ein Teenager zu werden, streunt mit seinen Kumpels und deren Geschwistern durch die Straßen, ist naturverbunden und liebt den Rummel, der einmal jährlich dem kleinen Örtchen ein wenig Aufsehen verleiht. Hier tritt Meg Loughlin in sein Leben, die ihre Eltern bei einem tragischen Unfall verlor und nun mit ihrer kleinen Schwester Susan in das Nachbarhaus der alleinerziehenden (und mit ihnen verwandten) Ruth und ihren beiden Jungs Donny und Willie zieht. Zunächst scheint sich eine zarte Liebesgeschichte zu dem etwas älteren Mädchen zu entwickeln, kindliche Romantik entzückt den Leser, und lange scheint die harmonische Unschuld von Dorf und Rasselbande nichts, wirklich gar nichts außer amüsanter Jungsstreiche, zu trüben. Bis ihr Ketchum ein Beil in den Nacken jagt. Zwar ist es kein abruptes Ereignis, dass einen Bruch erzeugt, dennoch bauen sich unerwartet so schnell Spannung, dicht gefolgt von Fassungslosigkeit und unvermeidlichem Ekel beim Leser auf, dass es einem vorkommt, als sei man in einer neuen Welt gelandet. In einer Geschichte von Tyrannei und Missbrauch, in so derber Ausformung, dass man nur hinaus möchte, nicht mitwissen möchte, doch ihr ebenso wenig entfliehen kann wie der junge Erzähler. So grausam, dass es sich hier nicht verbietet, Näheres zu Erzählen, um die Überraschung aufrecht zu erhalten, sondern allein dem Erhalt der Sittlichkeit wegen. Mehrmals kämpfte ich während der Lektüre mit mir, nicht in Tränen auszubrechen oder wahlweise den Magen zu entleeren.
Dass dies alles auf einer wahren Begebenheit – der der 16-jährigen Sylvia Likens – basiert, erfuhr ich erst im Nachhinein – oder vielleicht wurde es mir berichtet oder gar im Vorwort erwähnt, dann habe ich es sicher während des Konsums zum Selbstschutz verdrängt. Noch erschreckender als dies (was mir immer noch irreal vorkommt) fand ich aber beinahe die Tatsache, dass der Stoff bereits verfilmt wurde – wenn er den Bildern, die noch durch meinen Kopf spuken, auch nur nahe kommt -, danke, ich verzichte. Und das ist absolut keine Kritik. Meisterlich, Mr. Henker.
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