Kurzgeschichte: Der ungebetene Gast

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Sie saßen im schummrigen Kerzenlicht an einem kleinen rechteckigen Tisch. Eine schwächliche Frau sprach beschwörende Worte, die Spannung war spürbar. „Kann mich jemand hören?“, fragte sie fordernd. „Mach dich bemerkbar, wenn du da bist!“ Es geschah nichts, noch nicht. Enttäuschung machte sich in den Gesichtern der vier Männer breit. Sie hatten mit Vertretern aus dem Reich der Toten sprechen wollen, vielleicht mit dem einen oder anderen Freund. Ein Fremder hätte es auch getan, doch diese Reaktion, die keine war, hatten sie nicht gewollt. Ein Hauch von Verärgerung durchströmte das Zimmer.
„Na, das war wohl nichts!“, der älteste der jungen Männer erhob die Stimme und durchtrennte die Stille. Er war 23 Jahre alt und arbeitete in einer Bank, was nicht gerade für den höchsten Nervenkitzel hielt. Er hatte etwas völlig Außergewöhnliches unternehmen wollen, doch daraus sollte wohl nichts werden. Bummm! Er sah sich abrupt um. Der Kleiderständer war mit lautem Getöse umgefallen, als hätte, ja als hätte ihn eine unsichtbare Hand umgestoßen. Die Männer wurden unruhig.
„Still!“, die Frau, das Medium, herrschte das Herrenquartett an. Sofort kehrte Stille ein. „Ich kann jemanden spüren. Wer bist du?“ Die Augen der fünf Personen klebten auf dem Seancebrett. Es war eine kleine quadratische Sperrholzfläche, auf der in der Mitte ein Zeiger befestigt war. Rund um den Zeiger befanden sich die Buchstaben des Alphabets und Zahlen von null bis neun. Der Zeiger rotierte langsam um die Buchstabenreihe.
„Wer bist du?“, das Medium wurde eindringlicher. „Sag es uns!“ Der Zeiger wurde noch langsamer und hielt plötzlich an. Er zeigte auf den Buchstaben L und verharrte dort. Die Frau war verwundert. Sie hatte diese Art der Kontaktaufnahme mit dem Reich der Toten schon mehr als hundert Mal gewagt, doch niemals war ein Geist so sparsam bei der Nennung seines Namens gewesen. Es kam schon einmal vor, dass Kosenamen oder Initialen benutzt wurden, doch ein einziger Buchstabe war ihr noch nie untergekommen.
Sie ließ sich trotzdem nicht beirren und fuhr fort. „Gut L, sag uns, ob du jemanden am Tisch kennst?“ Die Spannung bei den vier Männern stieg fast ins Unermessliche, nervöse Blicke starrten auf das Brett. Der Zeiger bewegte sich nicht. „L, wen von uns kennst du?“ Der Zeiger geriet urplötzlich wieder in Bewegung, vollführte drei Drehungen um den Buchstabenkreis und kam auf dem A zu Stillstand. „A“, sagte das Medium. Der Zeiger kreiselte zum L, einmal herum und blieb erneut beim L stehen. „All.“
Nach den Worten der Frau kam der Zeiger wieder in Fahrt und signalisierte den Buchstaben E. „Alle? Du kennst uns alle?“ Eine unbestimmte Angst erfüllte die Frau augenblicklich. Wie konnte er sie alle kennen? Drei der vier Männer hatten sich am Abend zuvor zum ersten Mal gesehen und auch das Medium kannte vorher niemanden von ihnen. Durch eine Anzeige in der Tageszeitung hatte sie Teilnehmer für eine Seance gesucht, um ihren spärlichen Lohn, den sie in einer Fabrik an einem Fließband verdiente, aufzubessern.
Es gab nur wenige Möglichkeiten, warum der Geist alle fünf Personen am Brett kennen konnte. Die schrecklichste schoss ihr so leicht durchs Hirn wie eine Gewehrkugel durch einen Stapel Pappe. Sie verwarf die fürchterliche Ahnung schnell. „Es gibt keine weiteren wichtigen Anhaltspunkte für diese grausame Möglichkeit“, redete sie sich innerlich ein. Die Frau wartete, bis ihr Atem wieder flach und ruhig war, bevor sie fortfuhr. „Sag uns, seit wann du tot bist, L?“ Sie fühlte wieder das schleichende Angstgefühl in ihr hochkriechen. Zum Zerreißen gespannt manifestierte sich ihr Blick auf dem Seancebrett.
Der Zeiger kreiste dreimal herum, um auf dem N stehen zu bleiben. „N“, sagte der junge Bankangestellte. „RUHE“, die Frau war nun unruhig, sie wollte die Kontrolle behalten. Der junge Mann blickte verschämt auf den Boden. „N“, wiederholte sie, doch sie hatte den Buchstaben kaum ausgesprochen, da landete der Zeiger bereits auf I, strich weiter zum C, dann zum H und zum T. Er hatte nun eine unglaubliche Geschwindigkeit, so dass sie das Medium nicht mehr jeden einzelnen Buchstaben wiederholen konnte. „NICHT?“, brachte sie stammelnd hervor, sie ahnte, was nun kommen würde. T – O – T. Der Zeiger kam nach den drei Buchstaben zur Ruhe. „Nicht tot“, sie war fassungslos. Die vier Männer blickten wie ängstliche Kinder am Zeugnistag in die Runde.
„Du bist nicht tot? Du lebst?“ Einen Bruchteil einer Sekunde benötigte der Zeiger, um zum J zu gelangen. J wie Ja. „Aber wer bist du dann?“, sie wusste, dass die Frage sinnlos war, denn er (es?) hatte bereits auf sie geantwortet. Trotzdem strich der Zeiger noch einmal um den Buchstabenkreis. Das L war erneut sein Ziel. Ihre schlimmsten Ahnungen sah sie bestätigt und furchterfüllt stellte sie die entscheidende Frage, sie musste es tun. „Bist du“, sie stockte, „bist du Luzifer?“ Wie eine Wasserstoffbombe aus einer B52 sackte der Name in die Abgründe ihrer Seelen. Der Zeiger bewegte sich nicht. Hoffnung keimte auf, doch sie musste es genau wissen. „Bist du der Teufel?“, sie zitterte vor Erregung und Furcht, als der Zeiger sich langsam und scheinbar genüsslich in Bewegung setzte. Er strich am J vorbei zum N, wurde langsamer, ja hielt beinahe an, bevor er eine schnelle Drehung um den gesamten Kreis vollführte und doch noch auf dem J innehielt.
Tim war erschüttert. Der junge Banker hatte gehofft, sein so langweiliges Alltagsleben ein wenig aufpeppen zu können. Stattdessen musste er nun mit ansehen, wie das Böse sich vor ihm und seinen Mitstreitern ausbreitete und seine Präsenz tief in sein Herz pflanzte. Er hatte mit seinem Freund Michael, der mit Tim in derselben Bank arbeitete, auf diese Annonce geantwortet. Im Gegensatz zu Tim konnte Michael mit dem ganzen Gerede über übernatürliche Phänomene und Stimmen aus dem Reich der Toten nichts anfangen, trotzdem hatte er sich überreden lassen. Es sollte ein Spaß für die beiden Freunde werden und nun bereuten beide aufs Tiefste ihre Bereitschaft, mit dem Reich der Toten Spiele zu spielen.
Als beide vor einer Stunde im Haus von Elisabeth Nemo angekommen waren, waren sie bester Dinge. Trotz der dürftigen Beschreibung am Telefon war es ein Leichtes gewesen, das Zweifamilienhaus zu finden. Es stand allein auf weiter Flur im Schilf und allein der Anblick des Hauses hatte die Vorfreude der beiden noch gesteigert. Ein Klischee jagte das nächste. Ein einsames Haus, ein Medium mit langen schwarzen Haaren und riesigen goldenen Ohrringen, eine schwarze Katze. Was wollte man mehr? Lediglich das Alter des Mediums ließ zu wünschen übrig. Wer hatte schließlich schon einmal von einer 28-jährigen Hexe gehört? Doch mussten Hexen nicht auch einmal jung gewesen sein?
Michaels Skepsis war ins Unermessliche gestiegen. Nach ihrer Ankunft führte Elisabeth Nemo die beiden Jungbanker ins Wohnzimmer. Es war gemütlich eingerichtet und an einem großen Holztisch hatten bereits zwei Männer Platz genommen. Sie mussten sich offenbar auch auf die Anzeige gemeldet haben. „Weiche, Satan, verschwinde aus unserer Runde“, Tims Gedanken kehrten schlagartig zum grausamen Geschehen am Seancebrett zurück. Elisabeth Nemo blickte verzweifelt auf das Brett. Sie wollte das Böse nicht herausfordern, da sie wusste, dass sie SEINE Präsenz nicht lange aushalten würde. Er würde versuchen, von ihr oder einem ihrer Mitstreiter Besitz zu nehmen. Es war nicht das erste Mal, dass sie bei einer Seance in Konflikt mit dem Teufel kam. Vor mehr als einem Jahr hatte sie während eines Gesprächs mit einem Vertreter aus dem Jenseits sein Kommen spüren können. Sie hatte bemerkt, wie ihr übernatürlicher Gesprächspartner immer unruhiger geworden war und plötzlich den Kontakt abbrach. In nur einer halben Minute hatte sie gespürt, wie stark das Böse sich ihrem Geist manifestieren könnte. Fast eine Woche lang war ihr Schlaf mehr als unruhig gewesen, ja war beinahe nicht mehr Schlaf zu nennen gewesen. Für fast ein Vierteljahr hatte sie ihre Seancen eingestellt. Die Angst, IHN wieder zu begegnen, war zu groß.
Sie war ein Medium, solange sie denken konnte. Bereits im Kindesalter hatte sie Stimmen gehört, mit unsichtbaren Freunden gespielt und seltsame Träume gehabt. Ihre Eltern hielten das für Kinderspinnereien und ließen sich auch vor den erstickten Angsttränen ihrer Tochter nicht davon abhalten, vor mehr als 18 Jahren mit dem Auto zu einem Grateful Dead-Konzert zu fahren, wo sie allerdings nie ankamen. Ein sturzbetrunkener Trucker bedeutete für ihre jungen Leben ein schmerzerfülltes Ende. Die kleine Elisabeth konnte über den Tod ihrer Eltern nicht hinwegkommen und so suchte sie bereits im Teenageralter ihr Glück in Seancen. In den letzten zwölf Jahren hatte sie über 500 Seancen abgehalten, ihre Eltern traf sie jedoch dabei niemals.
Der Zeiger rotierte nun fortwährend. Elisabeths heisere Stimme erfüllte das kleine Wohnzimmer. „Verschwinde, verschwinde. Du bist ein Niemand. Wir kennen dich nicht. Wir kennen deinen Namen nicht!“ Sie wusste, dass ER bei jeder Namensnennung an Stärke gewann. Sie durften keine Schwäche zeigen, doch einer der vier Männer, Carl Bossert, ein reisender Vertreter, der sonst ironischerweise Bibeln von Haus zu Haus trägt, heulte leise vor sich hin. „Sei still, hör auf zu heulen, du Schwachkopf“, kreischte Elisabeth hysterisch. Ihre Worte ließen den 38-Jährigen sofort verstummen. „Wir sind stark, du kannst uns nichts tun. Verschwinde dorthin, wo du hergekommen bist!“
Eine Ecke des Bretts brach heraus, der Zeiger rotierte fast unsichtbar vor Geschwindigkeit. Eine unheilvolle Kraft schickte sich an, aus Elisabeth herauszutreten, sie innerlich zu zerbrechen. Das Brett vibrierte, drohte in tausend Stücke zerfetzt zu werden. Der Zeiger brach ab und schwirrte durch das dunkle Wohnzimmer. „Nein, Nein! Verschwinde!“, Elisabeth war völlig ratlos, sie wusste, dass sie nichts mehr tun konnte. Nur noch wenige Sekunden und ER würde von ihr Besitz ergriffen haben. Sie erstarrte, als sie fühlte, dass ER in ihren Körper eindrang, dass ER ihren Geist besetzte und plötzlich… …war er weg! Verschwunden, ihr Körper war wieder frei, er gehörte ganz ihr. Die Spannung war gewichen. Erleichterung machte sich breit. Sie schaute auf. „Was? Was ist geschehen?“, sie war ratlos und fühlte sich, als wäre sie aus einer tiefen Ohnmacht erwacht. Als sie sich ein wenig gefasst hatte, erkannte sie, dass Tim seine Hände auf das Seancebrett drückte. Auch er gewann an Fassung und schaute ängstlich in ihre Augen, die ihn fragend und mit übernatürlicher Schönheit anblickten. „Ich“, er hielt inne, um einen tiefen Luftzug zu nehmen, „Ich dachte, dass das helfen könnte.“ Tim erhob seine Hände und gab den Gegenstand frei, den er auf das Brett gedrückt hatte. Es war ein goldenes Kreuz, ungefähr so groß wie seine Handinnenfläche. Das Kreuz, ein Talisman, den er um seinen Hals trug, hatte einen dunklen Fleck im Brett hinterlassen. Es roch verkohlt. Sie starrten sich immer noch in die Augen, während der Rest der Runde die Flucht angetreten hatte, allen voran Tims Freund Michael.
„Ich glaube fast, du hast mir das Leben gerettet“, Elisabeth flüsterte. „Uns, uns das Leben gerettet, muss es heißen“, erwiderte Tim und ließ ein winziges Lächeln über seine Lippen huschen. „Aber ich war es nicht, Gott war es. Ich war nur die ausführende Hand.“ Elisabeth schluckte. „Es ist wohl besser, wenn du jetzt auch gehst“, sie wies auf die Tür. „Aber, wenn er wiederkommt? Du bist hier nicht sicher!“ „Er kommt nicht wieder, vorerst nicht, und außerdem, wenn er wiederkommt, bin ich nirgendwo sicher!“ Tim seufzte. „Ich glaube, du hast recht. Ich gehe“, Tim nahm seine und die Jacke seines Freundes Michael, der das teure Lederjacket bei seiner Flucht liegengelassen hatte, und schlenderte zur Tür. „Ach, Tim?“ „Ja?“ „Vergiss, was du hier erlebt hast!“
Tim saß vor seinem Kühlschrank und suchte ein letztes Bier. Es war nun acht Tage her, seitdem er den Teufel verjagt hatte. Das hört sich gut an, dachte er. Wie in einem Groschenroman. John Sinclair und Tim Rollins jagen Satan – Teil I. Vergessen sollte er die ganze Geschichte und das wollte er auch zu gern, doch leichter gesagt als getan. Er hatte es zwar für möglich gehalten, dass es übernatürliche Phänomene gab, doch der Teufel? Daran glaubte er eigentlich nicht, wie auch sein Glaube an Gott eher unkonventionell war. Er vermutete, dass es einen Gott gebe, doch in Zusammenhang mit der Kirche und dem Papst brachte er ihn nicht. Wenn es einen Gott gibt, so konnte ihm der Kult, den die Kirche betreibt, nicht recht sein. Auch die Verbrechen, die im Namen Gottes vom Papst und der Kirche in all den Jahrhunderten begangen wurden, konnten nicht auf das Verständnis Gottes gestoßen haben. Er dachte in diesen Dingen relativ rational, doch er wusste auch, dass die Menschen an etwas glauben mussten, um ihren Frieden zu finden und so glaubte auch er an einen Gott und an das Kreuz als Zeichen Gottes, als Zeichen der Befreiung. Ein Kreuz, das half, den Satan in die Flucht zu schlagen.
In langen schlaflosen, angsterfüllten Nächten versuchte er eine Erklärung für die Geschehnisse bei Elisabeth Nemo zu finden, eine vernünftige Erklärung, die übernatürliche Wesen wie den Teufel ausschlossen. Er hatte Bücher über ähnliche Erscheinungen quasi verschlungen und nach wenigen Tagen bildete er sich eine vorläufig endgültige Meinung, die die Existenz des Bösen nicht länger verleugnete. Die Saat in seinem Innersten war gepflanzt. Tim schlug die Kühlschranktür zu, er hatte kein Bier gefunden, ging zu seiner Stereoanlage und legte eine CD ein. Er hatte die Angewohnheit, mit Musik einzuschlafen. Seine große CD- und Schallplattensammlung hielt ihn jedoch stets dabei auf, ins Bett zu gehen, da er oft mehr als eine Viertelstunde benötigte, um die seiner Stimmung entsprechende Scheibe zu finden. Diesmal wurde er schon nach wenigen Minuten fündig, und während er es sich in seinem Bett bequem machte, begann Jimi Page von Led Zeppelin mit den ersten Tönen von Achilles Last Stand. Nach genau 44 Minuten und 20 Sekunden war Tim immer noch wach, genauso so lang lief die CD, bis sie im furiosen Finale von „Tea for One“ endete. Tims Gedanken konnten sich immer noch nicht von der Seance bei Elisabeth lösen. Er wälzte sich noch eine gute halbe Stunde von Tom Waits´ Closing Time im Bett herum, bevor ihn ein tiefer Schlaf einfing.
Atmosphärische Musik weckte Tim. Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte, doch eins war klar: Die Musik war eindeutig nicht von Tom Waits. The Mission, Sisters of Mercy oder etwas Ähnliches Dichtes musste es sein. Hatte er eine neue CD eingelegt? Er konnte sich nicht erinnern, also stand er auf und ging zur Stereoanlage. Das Zimmer lag weitgehend im Dunkeln, der Mond war bereits auf dem Rückzug und erhellte nur noch partiell den Raum. Der CD-Player war aus! Es war ein japanisches Gerät, das sich nach drei Minuten Nichtbenutzung selbst abschaltete, um Strom zu sparen. Tim war verwirrt und bemerkte eine schleichende Angst in sich hochsteigen. Sein Blick streifte durchs Schlafzimmer und blieb auf dem Radiowecker kleben. 4:36 blinkte dort in roten LED-Zahlen. Die Musik wurde ausgeblendet, eine Verkehrssondermeldung warnte vor einem Geisterfahrer. Tim war erleichtert. Anscheinend hatte sich der blöde alte Wecker wieder einmal verselbstständigt und war angesprungen. Er musste sich endlich einmal einen neuen zulegen, schließlich hatte er das schon des Öfteren gewagt. Nie war Tim jedoch so erschrocken gewesen, doch niemals war die Musik aus dem Radio so bedrohlich gewesen. Soundtrack für den erfolgreichen Selbstmord, fuhr es ihm durch den Kopf. So hatte er einmal eine Kassette für einen Freund benannt, die voll mit Musik von The Mission gewesen war. Tim holte aus und schlug mit seiner linken Faust auf den verdammten Wecker. Sofort verstummte die Stimme des Sprechers, und Tim legte sich wieder ins Bett. Ruhe breitete sich im Zimmer aus. Es war still, sah man einmal von diesem Schnaufen ab. Tim realisierte schlagartig, dass es nicht sein Atem war, den er da hörte. Der Odem des Todes durchströmte den Raum, das Atmen wurde immer heftiger. Es weitete sich zu einem regelrechten Schnaufen und fürchterlichem Rasseln aus. Es war, als läge jemand neben Tim im Bett in den letzten Zügen, kurz davor, sein jämmerliches Leben auszuhauchen. Tim war entsetzt, sein Körper schlotterte angsterfüllt. „Wer ist da?“, entfuhr es ihm.
„Was willst du hier, verschwinde!“ Du weißt nur zu gut, wer ich bin, durchströmte es Tims Kopf. Die Stimme schien aus dem Nichts zu kommen und seine Ohren erfaßten diese schrecklichen Töne nicht einmal. Es war allein sein Gehirn, das die Stimme des Bösen aufsaugte. Ich werde nicht verschwinden, nie mehr. Ich werde dein erbärmliches Leben von nun an leiten und dich an Orte führen, deren Existenz du nicht mal für möglich gehalten hättest. Du wirst auf den Knien liegen und mich anflehen, deine Hand zu nehmen und dich in den Garten der Wonne zu führen.

Du wirst mein Reich besuchen, schon bald. Denk an meine Worte! Die Stimme verstummte und Tim fiel in einen todesähnlichen Schlaf. Als er aus seiner Trance erwachte, fühlte er sich, als hätte ihn ein Lastwagen überrollt. Sein Blick fiel auf den Wecker, der jedoch den Geist vollends aufgegeben hatte. Es war taghell im Zimmer, kein Wunder, schien doch die Sonne mit all ihren Vorzügen durch das große Atelierfenster und erwärmte die Luft. Tim sucht seine Armbanduhr, die er über Nacht stets abtat und auf seinen Nachttischschrank plazierte.

Dort war sie jedoch nicht mehr. Er fand sie statt dessen auf dem Boden. Sie war zerbrochen, die Zeiger verbogen. Er raffte sich auf, ging in die Küche. Die Wanduhr bot ein mitleiderregendes Bild. Sie hatte beide Zeiger verloren, das Zifferblatt hing heraus. „Was war denn hier los heute Nacht?“, Tim war verwundert. Er konnte sich an nicht viel erinnern. Der Radiowecker hatte ihn mitten in der Nacht geweckt, wofür er seine Faust zu spüren bekommen hatte. Dann war er wieder eingeschlafen, oder? Er wußte es nicht. Die Geschehnisse der Nacht waren völlig ausgelöscht. Tim schnappte sich das Telefon und wählte die Nummer der Zeitansage. Es war besetzt. Beim dritten Mal kam er dann durch. „Beim nächsten Ton ist es 12 Uhr 43 und 36 Sekunden“ „Verdammte Scheiße“ ,der Piepton erstarb als Tim den Hörer auf die Gabel schlug. Er eilte ins Schlafzimmer, streifte in Windeseile seine Jeans über, hielt dann aber doch inne. „Es hat ja doch keinen Zweck mehr“, er mußte wohl die Krankennummer spielen. Er rief bei der Bank an und erklärte seinem Chef in grandioser Manier, wie angeschlagen er doch sei. Ein Schauspieler hätte es wohl nicht besser hinbekommen. Da er sich bisher nichts zu schulden kommen hatte lassen, gab sein Chef ihm frei, bis er sich von seiner „Angina“ erholt hatte. Tim strahlte. Er war stolz auf seine Schauspieltalent, der Ärger über das Verschlafen war vergangen.

Tim beschloß das tolle Wetter auszunutzen, schnappte sich das Buch, das er gerade las – Burgess´ Earthly Powers – und ging in den Stadtpark. Er setzte sich unter eine alte Eiche und gewann die Erkenntnis, daß er seine vorgetäuschte Krankheit noch einige Tage als Deckmantel für gnadenloses Faulenzen benutzen wollte. In der folgenden Nacht suchte ihn erneut der ungebetene Gast heim und so war es auch in den nächsten drei Nächten. Tim war morgens wie gerädert aufgewacht, erinnerte sich jedoch wie schon beim ersten Mal an nichts. Dies änderte sich einen Monat später. Tim arbeitete schon seit drei Wochen wieder. In dieser Zeit hatte er mehrere Male verschlafen und sein Chef begann allmählich sauer auf ihn zu werden. Sauer? Nein, es war mehr; er hatte ihm gedroht, daß er bei weiteren Ausfällen seinen Job an den Nagel hängen könnte und genau das geschah auch zwei Wochen darauf. Tim war wieder mit dicken Rändern unter den Augen in die Bank gekommen, seine Kleidung war zerknittert, sein befleckter Schlips reines Alibi.

Seit diesem letzten Tag in der Bank waren zwei Monate vergangen, Monate voller Angst. Die Nächte wurden Tim zu Tagen gemacht, sein Lebenswille wurde hart attackiert. Er träumte von sterbenden Kindern in sinnlosen Kriegen, aufgeschlitzten Frauen in bluttriefenden Kleidern und niemals erkannte er denjenigen, der all diese Morde auf dem Gewissen hatte. Er wußte natürlich, wer dafür die Verantwortung trug, doch sein Gesicht hatte er noch nie gesehen. Ja, er wußte nicht einmal, ob die ganzen Untaten, die er in seinen Träumen präsentiert bekam, wirklich geschahen oder ob es sich um Trugbilder handelte, die das Böse in sein Hirn implantiert hatte. Tim verlor schnell den Kontakt zu all seinen Freunden und Bekannten, er schlief nun fast den gesamten Tag über, da er in den Nächten seinen grausamen ungebetenen Gast erwartete, der auch stets erschien und ihn in einen Schlaf schickte, der das Wort nicht verdiente.

Nach dem Erwachen fühlte Tim sich, als hätte er die ganze Nacht über wach gelegen und vielleicht hatte er das ja auch. Tim bemerkte schnell, daß er diesem übernatürlichen Wesen nur sehr wenig, eigentlich nichts entgegenzusetzen hatte. Er hatte alles ausprobiert, was traditionell das Böse abhalten soll und was zumindest bei der Seance auch geklappt hatte. Er staffierte seine Wohnung mit Kreuzen aller Art aus, kaufte Knoblauch und besprühte sich mit heiligem Wasser, doch alles war umsonst. Die Kreuze schienen IHN sogar noch herauszufordern, er brannte Oktogramme in ihre Oberflächen. Tim war verzweifelt, das Kreuz hatte doch bei Elisabeth Nemo gewirkt und ihn vertrieben. Tim wußte sich nicht mehr zu helfen und eines Tages, viel zu spät, beschloß er das Medium noch einmal zu besuchen. „Wer ist da?“, ein panischer Schrei drang hinter der Haustür ins Freie.

„Tim Rollins, ich war Gast bei einer ihrer Seancen, bitte lassen Sie mich ins Haus. Ich muß mit ihnen reden!“ Die Tür öffnete sich lautlos um einen Spalt, Elisabeth Nemo blickte durch die Öffnung. Sie sah fürchterlich aus. Ihre Haare waren strähnig, es schien als hätte sie Wochen nicht mehr richtig schlafen können. Tim wußte, daß sie es nicht gekonnt hatte. „Kommen Sie herein“, forderte sie ihn streng auf. Er trat in das Haus, das sein Leben völlig verändert hatte und folgte dem Medium ins Wohnzimmer. Die zerbrochene Seanceplatte lag immer noch auf dem Boden und die Vorhänge waren zugezogen. Lediglich ein sechsarmiger Kerzenständer ließ seine Lichtquellen den Raum erhellen. „Wie können sie so in diesem Haus leben, wie können sie noch eine Kerze brennen lassen. Ich würde mir vor Angst in die Hose machen“, Tim schaute Elisabeth entrückt an.

„Kerzen sind kein Zeichen des Bösen, Kerzen lassen sich von IHM nicht beherrschen. Ich liebe Kerzenlicht, es ist warm und freundlich und es hilft mir, meine Angst zu überwinden.“ Tim schien zu verstehen. „Sucht er Sie auch jede Nacht heim? Quält er ihren Geist ebenso wie den meinen. Tote, Blut und sinnloses Gemetzel, jede Nacht auf´s Neue“, Tim schluchzte. Elisabeth Nemo berührte seine Hand. „Ja, das tut er“, sie blickte auf den Boden. Tim fühlte sich nun ein wenig besser. Es half, die Qual mit jemandem teilen zu können. „Was können wir tun, Elisabeth? Was können wir tun?“ Elisabeth setzte sich auf das dunkle Sofa. „Tim, ich glaube, wir sind machtlos. Ich habe bereits alles versucht. Kreuze, Beschwörungen, Gebete. Sinnlos!“ „Aber das Kreuz; warum hat das Kreuz uns damals bei der Seance geholfen, warum, Elisabeth?“ Sie zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.

„Wollen Sie auch eine?“ Tim verneinte. „Das Kreuz hat sich tief ins Holz gebrannt, doch wenn es nicht direkt mit ihm verbunden ist wie durch das Brett, scheint es wirkungslos zu sein. Ich habe keinen blassen Schimmer warum, er ist einfach stärker als alle anderen Mächte dieses Universums.“ „Aber es muß doch eine Möglichkeit geben, ihn aus unserem Leben wieder zu streichen. Elisabeth, es muß einfach!“ Sie drückte ihren Glimmstengel schon wieder aus und blickte Tim besorgt an. „Vielleicht gibt es eine!“ „Mach dich bemerkbar, wenn du da bist. Tritt mit uns in Kontakt, du Fürst des Bösen“, Elisabeth beschwör das nagelneue Seancebrett. Es war ihre erste Sitzung seit dem Zwischenfall, das Brett lagerte in ihrem Wandschrank. Es war ein Geschenk einer alten Freundin, die, bevor sie das Zeitliche gesegnet hatte, Elisabeth das massive Holzstück geschickt hatte. Es war weitaus schöner als das Brett, was zu Bruch gegangen war. Ornamente in Goldlegierung schmückten die Ränder und die Buchstaben und Zahlen sahen antik aus. Der Zeiger bestand aus Gold und er ließ sich nur mühsam bewegen. „Luzifer, Satan. wo bist du? Zeig dich!“ Tim hielt Elisabeth´s rechte Hand. Er flüsterte.

„Sollen wir das wirklich tun, ist es nicht zu…“ „Gefährlich? Ha, es ist unsere einzige Chance“, unterbrach sie ihn „, und nun sei still!“ „Bist du zu feige uns die Stirn zu bieten, du Ungetüm der Hölle?“, Elisabeth begann IHN zu beschimpfen. Tim glaubte vor Angst einen Herzstillstand zu bekommen als der Zeiger sich in Bewegung setzte. „Bist du da?“ Der Zeiger bewegte sich unweigerlich zum J. „Okay, du bist also hier. Wir wollen, daß du aus unseren Leben verschwindest, unser Weg ist vorbestimmt. GOTT wacht über unsere Schicksale. Sie sprach den Namen Gottes ehrfürchtig und mit einer unglaublichen Stärke aus, doch eigentlich war es für sie immer nur ein abstraktes Gebilde kirchengeschichtlicher Märchen gewesen. Ein Mythos, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der Zeiger bewegte sich und formte DAS Wort. G – O – T – T, danach zeigte der Zeiger auf ein Kreuz! „Was…“, Elisabeth hielt inne, als sie das unglaublichste Lachen vernahm, das sie jemals gehört hatte. Es wurde lauter, höhnischer, bedrohlicher. Elisabeth schrie auf. „Tim JETZT!“ Tim holte das geweihte Kreuz aus der Tasche und preßte es fest auf das Seancebrett, er fühlte sogleich einen stechenden Schmerz in der Hand mit der er das Gotteszeichen hielt. Das Kruzifix begann zu glühen, ein Schrei durchflutete den Raum. Ich muß durchhalten, ich muß durchhalten, ich muß…, Tim schrie ebenfalls und ließ das Kreuz los. Es glühte rot, bevor es zu verdampfen begann. Es löste sich auf, der Dampf stieg auf und verhüllte das Zimmer in Sekundenschnelle. Tim konnte Elisabeth nicht mehr sehen, doch plötzlich fiel sein Blick auf das pechschwarze Haar, das sich von ihrem Kopf gelöst hatte. Flammen schossen aus ihrem Schädel, das Zimmer war nun hell erleuchtet. Elisabeth schrie den Schmerz in die Welt und Tim fiel in ihr Gewimmer ein. Er mußte mitansehen wie ihr zierlicher ehemals schöner Körper in weiße Asche zerfiel, die Flammen griffen über auf die Vorhänge, vom Seancebrett züngelten sie gar bis an die Decke. Ein arrogantes Lachen schien Öl ins Feuer zu schütten. Ihr werdet alle sterben, alle. Ein Tim wohlbekanntes Röcheln schwebte über dem Chaos der Feuerhölle. Das Ende ist nah, dein Ende ist nah.

Tim ergriff die Flucht. Er rannte aus dem brennenden Inferno ins Freie, wo sich bereits zahlreiche Schaulustige zur fröhlichen Live-Tragödie eingefunden hatten. Tim lief schnurstracks auf seinen Wagen zu, fingerte hektisch seine Autoschlüssel aus der Hosentasche und sprang in den Golf. Als die Tür hinter ihm ins Schloß gefallen war, herrschte einen Moment lang Stille. Beruhigende Stille. Zehntel später zerbrach der Topf der Stille in Millionen Stücke. Die Ambulanz und Feuerwehrsirenen rissen ihn aus der Lethargie. Er steckte die Schlüssel ins Zündschloß und ließ den Motor des Volkswagen an und fuhr mit einem Kickstart durch eine Gasse Neugieriger, die sich an seinen Wagen vorgewagt hatten. Tim´s Kopf schien zu bersten als er seinen blauen VW Golf durch die Straßen lenkt. Er wollte nur noch weg, doch wo sollte er hin? Gab es ein Entkommen? Er raste durch die Innenstadt und fuhr geradewegs auf die Stadtgrenze zu. Er mußte raus aus diesem Ort, der ihm wie eine Art Schmelztiegel des Bösen vorkam. Noch eine Kreuzung, die größte der Stadt, bis zur Landstraße.

Sein Blick fiel nach links. Ein grüner Ford Taunus erschien in der Ferne. Keine Frage, es war Zeit genug, die Kreuzung vor ihm zu überqueren. Tim beschloß das Stopschild zu übersehen, schaltete lediglich in den zweiten Gang zurück und hielt auf die gegenüberliegende Landstraße zu. Er fuhr nun 65, schaltete in den dritten Gang. Plötzlich erschien vor ihm kurz hinter dem Mittelpunkt der Kreuzung ein kleines Kind auf einem Dreirad. Das Kind war keine vier Jahre alt, hatte blonde kurze Haare und bezaubernde blaue Augen. Es lächelte breit, während es genüßlich die Straße überquerte. Die Fahrtechnik des Kleinen war noch nicht besonders ausgefeilt, wie es bei kleinen Kindern oft der Fall ist, wenn die körpereigene Motorik die Feineinstellung erst auf das nächste Lebensjahr festgelegt hatte. Tim wollte gerade mit aller Kraft in die Eisen steigen, da ertönte die bereits altbekannte verhaßte Stimme in seinem Kopf. Los Tim, zermatsche es. Mach es platt! Eine weitere Seele für die Ewigkeit im Fegefeuer. GIB GAS! Tim stiegen Tränen in die Augen, er wollte immer noch bremsen, doch sein Wille schien zu brechen. Ich will den kleinen Kopf zerspringen sehen, will die Gehirnmasse aus den Ohren quillen sehen.

ICH WILL! „NEIN, NIEMALS“, Tims Schrei erfüllte den VW, gleichzeitig bremste dieser abrupt ab. Tim hatte die Bremse getreten. Er war wenige Zentimeter vor dem Kind zum Stillstand gekommen. Für Bruchteile hatte er dem Teufel Paroli geboten, die kurze „Diskussion“ mit dem Bösen hatte nicht einmal eine ganze Sekunde gedauert. Er hatte widerstanden. War das das Ende? Hatte er ihn fertiggemacht durch die Stärke seines Willens. Er hatte dem Kind das Leben ge-… …das Kind war weg. Vor zwei Sekunden hatte Tim den Wagen anhalten können und nun war es verschwunden. Ja, schlimmer, das Kind hatte nie exisitiert. Ein Trugbild, ein Spiel seiner Sinne. Tim wußte nicht was los war, er war völlig verblüfft und verängstigt. Er stand mitten auf der Kreuzung. Seine Angst lähmte seinen ganzen Körper und so hörte er auch das wilde Hupen eines von links in Höllentempo anstürmenden Ford nicht.

Das letzte, was Tim in dieser Welt vernahm, war ein ihm nur allzu gut bekanntes dämonisches Lachen. Ein Lachen, das ihm signalisierte auf einen Hinterhalt hereingefallen zu sein. Ein Lachen, das ihm den Weg in eine dunkle Zukunft ebnete.

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