Listening-Sessions sind oftmals sehr heikel. Der Künstler will sein neues Baby vorstellen und naturgemäß kein negatives Feedback erfahren, während der Journalist eine CD zum ersten Mal überhaupt hört und freundlich aber bestimmt ein fundiertes Ersturteil raushauen möchte. Mit Marco Wriedt (Foto) von 21Octayne kann so eine Session schon mal im wilden Fachsimpeln um Gott und die Gitarrenwelt ausarten.
Der Gitarrist ermöglichte es den RocknRoll Reportern nämlich in diesen Tagen, mit als erstes Medium überhaupt, den Nachfolger der überaus erfolgreichen Debüt-Scheibe „Into the Open“ (REVIEW) zu Ohren zu bekommen. Die Spannung war also durchaus vorhanden, haben wir die erste CD doch mit einer Topbewertung ausgestattet. Kann die Nachfolgerille an „Into the Open“ anknüpfen? Und wie wird „2.0“ klingen? Zwei Durchläufe der rund 45 Minuten langen Scheibe später weicht die Spannung der Erleichterung und das Fachsimpeln kann beginnen.
Natürlich kann man auf dieser Grundlage noch keine zu 100 Prozent fundierte Wertung vornehmen, doch eines kann man: Die 21Octayne-Fans mit enormer Vorfreude ausstatten, denn da kommt etwas Großes auf uns zu. „Wir wollten nicht auf Nummer sicher gehen“, sagt Marco im Gespräch mit dem RocknRoll Reporter, „sondern die Extreme der ersten CD weiter ausloten.“ Was er damit meint? Der Spagat zwischen virtuoser Musikermusik und absoluten Ohrwurmrefrains im großen amerikanischen Stil soll zwar weiter Grundsportart bei der zu einem Trio geschrumpften Formation (Andrew Lauer hat kürzlich 21Octayne verlassen und wird erst einmal nur temporär ersetzt) sein, doch man könne sich noch weiter strecken und die Grenzen ausloten. Das macht „2.0“ zu einer deutlich anderen Platte als das Debüt, die jedoch noch sämtliche Trademarks der Gruppe aufweist. Doch es gibt signifikante Unterschiede: Der Sound der Platte ist so transparent, dass man jede Nuance des zumeist beeindruckenden Zusammenspiels der Musiker durch die Kopfhörer oder Boxen fliegen hört. Ein Grund dafür ist auch das veränderte Equipment bei Marco Wriedt. „Mit dem neuen Engl-Amp und den Music Man-Gitarren bin ich jetzt variabler, benutze viel öfter verschiedene Tonabnehmerkombinationen.“ Ein Fakt, der seinem ohnehin herausragenden Spiel enorm zugute kommt.
Die Bassarbeit von Andrew Lauer ist darüber hinaus extrem vielseitig und ein echtes Pfund, während Drummer Alex Landenburg die vielleicht beste Arbeit seiner Karriere abgeliefert hat. Was der auf den Songs abzieht, ohne jemals die Musikalität der Technik unterzuordnen, ist sensationell. Die Klammer für all diese Virtuosität an den Saiten und Fellen ist Hagen Grohe, der zwischen Steven Tyler und Rob Halford einfach alles drauf hat.
Doch kommen wir zu den einzelnen Songs:
Devil in Disguise
Mit einem fetten Uptempo-Rocker eröffnen 21Octayne das Album, erinnern dabei schnell an Slash mit Myles Kennedy, bevor im öffnenden Refrain der Rock ‚n‘ Roll Einzug hält. Breaks sind das Steckenpferd der Band und gleich bei der Startnummer wird dies überdeutlich. Klasse Nummer!
Take me back
Hagen dominiert diesen Song durch den großen Refrain. Hier zeigen 21Octayne den perfekten (oben beschriebenen) Spagat. Musiker werden es lieben und, wenn der Refrain so mitreißend ist, auch der nicht musizierende Partner begeistert. Während der Refrain ins Radio gehört, ist der Rest ruppiger. Sowas würde ICH gerne im Radio hören. Man wird ja mal träumen dürfen…
When you go
Ah, die Radionummer. Ganz eindeutig auf Airplay schielt die Ballade, die Alter Bridge mit 80er Jahre AOR vermengt. Mit knapp drei Minuten wurde auch das Radiozeitmaß eingehalten, der Tonartwechsel, der den letzten Refrain scheinbar erhöht, ist trotz der leichten Klammerbluesaffinität des Tracks ein Leckerbissen.
Love is just a heartbreak away
Zurück ins Midtempo-Land geht es bei diesem Track, der in seiner ruhigen Strophe Marcos Gitarre majestätisch schimmern lässt. Der bockstarke „Wohoho“- Refrain (Hagen hat scheinbar einfach alles drauf) und die immer wieder eingestreuten Halftime-Parts machen diese Nummer zu einer Art Vorbild für geschmackvolles Songwriting.
Take me away
Jetzt wird es wild und es zeigt sich, was Marco Wriedt mit dem „Ausloten der Extreme“ meint. „Take me away“ lässt den Hörer nach einem Durchlauf mit offenem Mund stehen, der Kopf schwirrt, denn was 21Octayne hier aufführen, ist schon aller aller erste Sahne: Ein knallhartes Riffing im Intro, garniert mit großem Mittelteil plus Refrain im Alter Bridge-Stil (etwas sperrig und deshalb spannend) wird gekrönt durch ein wahnwitzges Iron Maiden meets Dream Theater-Spektakel plus äußerst aufregendem Gitarrensolo. Das ist definitiv ein Musikersong, hier gibt es soviel zu entdecken, ganz ganz stark. Vielleicht der beste Song des Albums.
Lost
„Lost“ wäre meines Erachtens eine sehr gute Singleauskopplung, beginnt chillig, an Toto erinnernd, während dann der Refrain und die bluesige Gitarrenarbeit eine runde Sache bilden. Eine Schmusenummer, die sogar Jungs mögen werden.
The Circle
Das ist wohl der bassigste Song der Scheibe. Nach einem fetten Riff wahwaht sich Andrew Lauer durch die Strophe, bekommt später auch noch ein aufwendig inszenierte Bass-Bridge zum Solo hin. Wenn Gott unter der Dusche singt, würde er wie Hagen singen, denkt sich der Rezensent schnell, bevor die Nummer auch schon vorbei ist.
Date with myself
Jetzt wird es traditionell, ja richtig bluesig. „Date with myself“ ist der einzige Song, der nicht komplett neu geschrieben wurde, sondern noch ein Fragment der Debüt-CD ist. „Hagen hat den wieder ins Spiel gebracht und wir haben ein wenig dran rumgedoktert bis er auf die Platte passte“, sagt Marco. Zu tun haben wir es hier mit einem echten Bluespattern, dessen Grundgerüst zu einem starken, eingängigen Ohrwurm-Refrain führt, in dem auf einzigartige Weise das Bluesschema verworfen, dann wieder aufgenommen wird. Spannend. Toll, was Alex hier macht. Während alle gemächlich rumbluesen, spielt er einige aberwitzige Fills auf dem Schlagzeug. Der spaßige Mittelteil lässt kurz den Blues vergessen bis Marco solotechnisch richtig einen abdrückt. Abgefahren.
Fly with me
Hier zeigt die Band klare Kante: Nämlich, dass es keine Kante gibt. Nach einem unaufgeregten Intro wiegt man sich in Sicherheit bis ein wahres Metal-Lick in auf dem Album noch nicht gehörter Härte über den Hörer hereinbricht. Der vielschichtige und variantenreiche Track überrascht mit ruhiger Strophe in treibendem Groove, einem echten FusionSoloteil und einem Metal-Refrain.
Tale of a broken child
Kommen wir zum letzten Song von „2.0“. Rund zehn Minuten haben 21Octayne jetzt noch einmal, um mich zu überraschen und sie tun es tatsächlich. „Tale of a broken child“ ist ein echtes Epos, irgendwo zwischen Genesis (!) und Dream Theater. Einem wirklich genialen Intro (Vinylkratzen, Lowfi-Gesang, der auf etwas überraschender Weise in enorme Surroundweite übergeht) folgt eine Stairway to Heaven-Reminiszenz. Moment mal… Diese Melodie habe ich heute schon einmal gehört und in der Tat (klärt mich Marco später auf) ist die Melodie ein durchgängiges Element, welches in mehreren Songs auftaucht (unter anderem auch am Ende dieser CD – dann gepfiffen, aber keine Angst, Klaus Meine ist nicht in Sicht). Einem Soundgewitter folgen echte Soloparts aller Musiker, ganz alte Progrockschule. Das sehr ruhig beginnende Gitarrensolo steigert sich scheinbar ins Unermessliche, ist so mitreißend wie der alles überragende Gesang von Hagen Grohe. Nach rund zehn Minuten manifestiert sich ein Wort in meinem Kopf: Masterpiece.
Klar, eine Bewertung der ganzen Scheibe lasse ich hier weg, glaube jedoch, dass jeder 21 Octayne-Fan auf seine Kosten kommen wird, wenn am 25. September „2.0“ erscheint (in drei verschiedenen Varianten übrigens), obgleich der Zugang sperriger sein könnte. Doch darüber hinaus sollten neue Fans hinzukommen, denn eines ist sicher: So wie 21Octayne klingt in Deutschland keine andere Band auch nur annähernd.
Master Chief, Junge für alles, Fotograbenkämpfer und Textakrobat. Herausgeber und Erfinder.