
Christoph Kramers Erstlingswerk „Das Leben fing im Sommer an“ entfaltet seine literarische Strahlkraft durch die kunstvolle Verwebung historischer Zeitzeugenschaft mit intimen Adoleszenzmomenten. Im Sommer 2006 – geprägt von WM-Euphorie und Hitzerekorden – erlebt der 15-jährige Chris eine Initiation, die weit über typische Coming-of-Age-Muster hinausreicht. Die Handlung oszilliert zwischen kollektiver Begeisterung und der stillen Revolte eines Teenagers, der zwischen Freibad-Pommes, nächtlichen Dachgesprächen und der quälenden Frage „Bin ich cool genug?“ seinen Platz sucht.
Erst im August 2024 beendete der ehemalige Profi nach elf Jahren bei Borussia Mönchengladbach seine aktive Laufbahn. Diese Entscheidung fiel nach einer Saison mit stark reduzierter Spielzeit (nur 14 Kurzeinsätze 2023/24) und markierte den Übergang in seine bereits etablierte Medienkarriere als ZDF-Experte. In emotionalen Abschiedsworten betonte Kramer: „Ich bin zehn Jahre lang mit einem Lächeln zum Borussia-Park gekommen. Diese Reise war unglaublich, aber nun beginnt etwas Neues.“
Kern der Erzählung seines Debüt-Romans ist die fragile Beziehung zu Debbie, deren scheinbare Unerreichbarkeit Chris in eine Spirale aus Selbstzweifeln und euphorischen Hoffnungsschüben stürzt. Die erste Begegnung auf einer Vereinsparty, der nervenaufreibende Austausch von SMS ohne Emojis und die peinlich-bananige Tanzszene im Scheinwerferlicht eines alten Golfs – Kramer zeichnet diese Annäherung mit bemerkenswerter Präzision. Die Liebesgeschichte wird zum Katalysator für existenzielle Fragen: Chris’ Kampf um Coolness entpuppt sich als Metapher für die Suche nach Authentizität in einer Welt, die ständig „Weiter! Schneller! Lauter!“ schreit.
Ein Schlüsselmoment ist der nächtliche Roadtrip mit seinem besten Freund: Mit geklautem Benzin rasen sie durch die Rheinische Provinz, baden nackt in einem stillgelegten Steinbruch und riskieren beim Überqueren einer Autobahnbrücke alles – nicht aus Leichtsinn, sondern um dem „Gefühl von Unsterblichkeit“ nachzujagen, das nur die Jugend schenkt.
Interessant ist die Ambivalenz zum Fußball: Obwohl Chris’ Profi-Traum immer wieder aufblitzt, dominiert nicht der Sport, sondern die Poetik des Alltäglichen – das Knistern von Kaugummipapier in der Hosentasche, der Geschmack von warmem Bier aus der Flasche, das Rascheln der Plastikplane auf der Scheune. Selbst die WM-Spiele dienen nur als fernes Echo, während die eigentliche Handlung in privaten Mikrokosmen stattfindet. Dieses Stilmittel unterstreicht Kramers Anliegen: Nicht das große Spiel, sondern die „stillen Explosionen des Erwachsenwerdens“ ins Zentrum zu rücken.
Christoph Maria Herbsts Interpretation unterstreicht diese Dualität, indem er die Spannung zwischen sportlicher Härte und verletzlicher Adoleszenz stimmlich meisterhaft ausbalanciert. Kramers Werdegang – vom WM-Helden zum preisgekrönten Autor – verleiht dem Roman eine besondere Tiefe: Es ist die Geschichte eines Mannes, der nach 288 Bundesligaspielen die Stille des Schreibens entdeckte, ohne seine Leidenschaft für große Emotionen zu verlieren. Das Hörbuch ist mit 5 Stunden und 52 Minuten angenehm kurz.
Die Erzählstruktur folgt keinem linearen Plot, sondern arrangiert sich aus fragmentarischen Eindrücken: Eine verbrannte Schulter am Baggersee, der erste Kuss zwischen Müllcontainern, das Rattern des Diaprojektors bei Debbies Elternabend. Diese episodenhafte Erzählweise, kombiniert mit Herbsts nuanciertem Vortrag, schafft ein Hörerlebnis, das an die sensorische Überwältigung unvergesslicher Jugendsommer erinnert.
Durch die biografischen Parallelen (Kramer war 2006 selbst 15) gewinnt die Geschichte zusätzliche Tiefe. Chris’ Scheitern an selbstgesteckten Coolness-Idealen reflektiert wohl Kramers eigene Jugenderfahrungen – eine Metaebene, die das Werk über reine Fiktion hinaushebt. Die finale Einsicht, dass „wahre Größe im Zulassen von Verletzlichkeit liegt“, verbindet den Fußballprofi und den Autor Kramer zu einer kohärenten Künstlerpersönlichkeit.
Für Hörer und Hörerinnen, die nach literarischen Jugendporträts mit Tiefgang suchen, bietet dieser Roman eine raue, authentische Alternative – weniger pathetisch, dafür umso wahrhaftiger in der Darstellung jugendlicher Verwirrung. Die Genialität liegt im Weglassen: Keine platten Lösungen, keine romantischen Klischees, nur das pure Rauschen eines Sommers, der alles verändert, ohne es je zuzugeben.
Überraschend aufregendes Erstlingswerk des ehemaligen Nationalspielers, meisterhaft vorgelesen.


Master Chief, Junge für alles, Fotograbenkämpfer und Textakrobat. Herausgeber und Erfinder.